6. Oktober 2023

60 Jahre Schweigen über die Vergangenheit

Wie nahe Schuld und Unschuld sowie Recht und Unrecht beieinander liegen können, erfuhren die 9. Klassen des Friedrich-Franz-Gymnasiums am vergangenen Donnerstag aus erster Hand. Das niederländische Ehepaar Lieke van Amstel und Harry Vogels war zu Gast in Parchim und erzählte seine ganz eigene Geschichte vom 2. Weltkrieg. Sie berichteten von ihren Großvätern, deren beider Weg von den Niederlanden nach Deutschland führte, aber sich ganz unterschiedlich entwickelte – für den Einen  zum Leben hin, für den Anderen zum Sterben.

Harry Vogels Opa Jan war ein glühender Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie und Mitglied des niederländischen Äquivalents zur NSDAP, der NSB (niederländisch: Nationaal-Socialistische Beweging). Zwei seiner insgesamt sechs Kinder schlugen den vom Vater vorgezeichneten Weg ein. Sohn Hans wurde Mitglied der Hitlerjugend, Sohn Jan trat der SS bei und verrichtete seinen Dienst als Zimmerer in der Ukraine, wo er später für drei Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Lediglich der Vater von Harry Vogels, Ben, war mit dem eingeschlagenen Kurs der Familie nicht einverstanden und entzweite sich mit den Verwandten. Im Streit über die politische Ausrichtung der Familie verließ jener damals noch im Teenageralter das eigene Zuhause und zog zur damaligen Freundin und späteren Mutter von Harry Vogels. Sein Opa floh am „verrückten Dienstag“, den 04. September 1944, nach Norddeutschland in der Befürchtung, die Alliierten würden die kompletten Niederlande in einem Zuge befreien.

Demgegenüber steht die Geschichte von Lieke van Amstels Großvater, Bastiaan Herman. Er wird Mitglied der niederländischen Widerstandsgruppe O.D., Orde Dienst. Zu seinen Aufgaben gehört es, illegale Telefonverbindungen herzustellen. Am 15. November 1944 wird er am Frühstückstisch vor der versammelten Familie von zwei Soldaten verhaftet und abgeführt. Zunächst wird er ins Lager Amerfoort transportiert, bis er später in einem Außenstandort des Konzentrationslagers Neuengamme festgehalten wurde. In jenem Lager werden zwischen 1938 bis 1945 ca. 100.000 Menschen gefangen gehalten. Rund die Hälfte von ihnen starb. So erging es auch Bastiaan Herman, dessen Leiche in einem Massengrab hinter dem Museumsgebäude in Wöbbelin liegt.

60 Jahre lang schwiegen beide Familien über ihr jeweiliges Vermächtnis. Die einen aus Schamgefühl, auf der falschen Seite gestanden zu haben, die anderen aus tiefer Trauer darüber, einen geliebten Menschen verloren und ohne einen Platz der Andacht zu haben. Erst im Jahr 2007 fand das Ehepaar nach Wöbbelin zur letzten Ruhestätte von Bastiaan Herman. Für die Mutter von Lieke van Amstel war es eine Erleichterung, in dessen Zuge sie ihr Schweigen über die Familiengeschichte brach.

In jahrelanger Recherchearbeit haben die Enkel Lieke van Amstel und Harry Vogels den Weg ihrer beiden Familien herausgearbeitet und es sich zur Aufgabe gemacht, die Schülerinnen und Schüler in Form von Vorträgen samt Bildern und Videos für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu sensibilisieren. Am Ende der Veranstaltung überreichte das niederländische Ehepaar den Parchimer Gymnasiasten eine Geschenktüte, in der sich neben Informationsmaterialien auch Tulpenzwiebeln befanden. Sie bilden eine stille Hommage an den Hungerwinter 1944/1945, wo Menschen aus Verzweiflung derlei Zwiebeln aßen. Im Mai nächsten Jahres werden im Schulpark des Friedrich-Franz-Gymnasium jene orangen Blumen gegen das Vergessen von Recht und Unrecht blühen.

Bilder: Elisa Taut, Mona Krüger und Lars Bühring

Autor: Max Zawadzki

 

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